Qualitätskriterien von Gebrauchsmusik
Vortrag zum kompositorischen Schaffen
von Rudolf Desch am 2. Februar 1997 in Schmelz
Als die Bitte an mich herangetragen wurde,
heute auf Leben und Werk des Komponisten Rudolf Desch einzugehen, habe ich
spontan und gern zugesagt, einmal, um meine Verbundenheit zur Chormusik und
denen, die sie tragen, zum Ausdruck zu bringen, zum andern in der Erwartung,
einer Persönlichkeit wie Rudolf Desch näher zu kommen. Sein Name
ist allen, die sich mit Chormusik beschäftigen, nicht unbekannt, doch
bedurfte eine Näherung einer intensiveren und umfassenden Beschäftigung
mit Leben und Werk.
Ich erfuhr hierbei, daß R.D. am 1.8.1911
in Bockenau bei Bad Kreuznach geboren ist, daß seine unmittelbare Heimat
sein weiteres Leben bestimmt hat und er ihr, seiner Heimat, während seines
ganzen Schaffens viel zurückgegeben hat. Ich erfuhr über seine umfassende,
vielfältige Bildung, seine Studien in Klavier, Orgel, Kirchenmusik, Dirigieren
und Komposition - einer vielfältigen Bildung, die mich angesichts der
zeitgenössischen Diskussionen um zielgerichtete Aus-Bildung angenehm berührt
hat - erhielt Kenntnis über seine Arbeit als Musikpädagoge und Komponist,
als Tonsatzlehrer am Konservatorium und an der Johannes Gutenberg Universität
Mainz. Zentrales Tätigkeitsfeld ist jedoch die Chormusik, der er sich
als Chorleiter, als Komponist und "Funktionär" widmete. Dieses
Zentrum ist auch Gegenstand vielfältiger Publikationen und Äußerungen
über R.D., bei deren Lektüre ich auf Sätze stieß wie
- als Chorleiter begann D. musikalisch
zu denken
- er komponiert in erster Linie für
Sänger
- ...durch harmonische, melodische und
formale Modelle, durch deren Traditionszusammenhang entsteht eine Ersatzwelt,
in der Kunst und Kultur als Heimat erfahren werden kann
- der Mann des Volkes weiß, was
gefragt ist
- er hat der Notwendigkeit populären
Komponierens mutig ins Auge gesehen.
Nun werden einzelne Formulierungen je nach
Ort und Anlaß ihres Zitierens befremdlich, (weil aus dem Kontext gerissen)
oder pathetisch wirken, sicherlich werden sie unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.
Neben Zustimmung wird Widerspruch zu erwarten sein - solcherlei Charakterisierung
erzeugt Lob und Kritik. Ungeachtet der Reaktionen auf diese Rezeptionen zeugen
sie doch von der Polarität der Wertungen. Denn genau dies, was hier förmlich
besungen wird, ist auch Ansatzpunkt für viele, Kritik zu üben. Den
"Kulturschaffenden" ficht dies jedoch wenig an, denn er lernt früh,
daß Lob und Kritik, Annahme und Ablehnung gleichzeitig Normalzustand
sind; wird an dem einen nicht zerbrechen, über das andere die selbstkritische
Sehensweise nicht verlieren. Der Gegensatz zwischen hoher Akzeptanz meist bei
den Ausübenden und dem Publikum, für die geschrieben ist, und ablehnender
Kritik bei den Intellektuellen - wenn dies Wort auch bei deren Gegnern als
Schimpfwort Verwendung findet, wollen wir den Begriff wertneutral verwenden
- oder bei denen, für die die Musik nicht geschrieben zu sein scheint,
prägt die Diskussion um die Kompositionen Rudolf Deschs. Ich möchte
mich an Streitgesprächen um Wertungen nicht beteiligen, und dies aus vielerlei
Gründen. Viel lieber möchte ich nachdenken, nachdenken über
die Bedeutung von Begriffen, die im Zusammenhang mit der Musik Deschs fallen.
Der Mensch Desch ist verwurzelt in seiner
Herkunft, nicht darin gebunden, sondern in ihr zu Hause. Er hat nie vergessen,
wo er herkam, hat diese Herkunft geachtet und geschätzt und sich in ihr
wohlgefühlt. Dies ist in der Tat ein persönliches und menschliches
Qualitätsmerkmal von hohem Rang. Dieses sozio-kulturelle Umfeld ist auch
Ziel seiner Kreativität. Er versteht die Menschen, für die er schreibt,
man spürt seine Achtung, für deren Gebrauch
ist Musik komponiert, sie übt in deren Leben konkrete Funktion
aus.
Die Begriffe Gebrauchsmusik oder Funktionale
Musik sind im Allgemeinen mit negativem Beigeschmack behaftet. Der Vorwurf,
Gebrauchsmusik sei Gelegenheitsmusik für eine begrenzte Rezipientenschicht,
denen meist auch nur begrenzte Rezeptionsfähigkeit nachgesagt wird, resultiert
genau genommen aus der Reaktion auf einen kulturellen und intellektuellen Nachholbedraf,
der sich zum einen aus der historischen Situation eines Vakuums nach 1933 ergab,
zum andern mit der beginnenden Auflösung des Industriezeitalters zu begründen
ist. Aus einem solchen Blickwinkel sind die Perspektiven begrenzt. Musik zum
Gebrauch für bestimmte Gruppen und zu bestimmten Anlässen mit deren
funktionaler Begrenzung zu schreiben, war für J.S. Bach genauso selbstverständlich,
wie für Palestrina;für Mozart tägliche Praxis wie für Schönberg
Notwendigkeit. Im Gegenteil, es ist von besonderem Reiz, dem nachzuspüren,
mit welchen Finessen sich solche Komponisten der Begrenztheit der musikalischen
Usualität und deren Auftraggeber widersetzt haben, ohne, daß dies
direkt auffiel. Die Nachwelt verklärt vieles von dem so entstandenen mit
distanzierter Unkenntnis. Gebrauchsmusik zu schreiben ist also eo ipso kein
Vergehen, ebenso wie es kein Mangel ist, Musik eine Funktion zuzuordnen. Musik
kann und soll ab und an einen bestimmten Zweck erfüllen, beispielsweise
im liturgischen Rahmen, und richtet sich nach deren Aufführungsmöglichkeiten,
Leistungsfähigkeit der Ausführenden, Einordnung der Musik in den
außermusikalischen Kontext und Aufnahmefähigkeit des Publikums.
Von diesen abhängig gestaltet sich das kompositorische Material und die
Struktur. All dies ist jahrhundertealte Praxis und hat vieles hervorgebracht,
was wir heite als Kunstmusik der Gebrauchsmusik und der Funktionalen Musik
entgegenstellen. Wo sind die Grenzen, die den Übergang von guter zu schlechter
Musik, von Akzeptablem und Verwerflichem markieren?
Ein wesentliches Qualitätskriterium
ist die handwerkliche Ebene, deren Gediegenheit und Seriosität
im besten Falle das Ergebnis als Kunsthandwerk ausweist. Dies setzt auch einen
Qualitätsanspruch an das kompositorische Material voraus. Sicherlich ist
nicht alles, was richtig im Sinne des tonsatztechnischen Regelwerks ist, auch
gut. Die Güte verlangt weitere Kriterien. Die Fertigkeit und Virtuosität
im Umgang mit den jeweils anzulegenden stilistischen Merkmalen und Traditionen
ist aber ein zentrales, weil nachvollziehbares und nachprüfbares Kriterium.
Handwerkiche Fertigkeiten alter Komponisten weisen deren Kunsthandwerk vielfach
als Kunst per se aus. Ein Bachscher Choralsatz ist Handwerk und Einzigartigkeit
gleichzeitig.
Der kommunikative Aspekt stellt eine
weitere Beurteilungsebene dar. Der alte Grundsatz, Kunst sei von jemandem für
jemand gemacht, wolle verstanden werden, gilt immer noch und dies für
alle Arten von Musik. Gleichwohl berühren wir hier einen sensiblen Punkt.
Es muß nicht nur Verstehbarkeit von der Kunst, der Musik, eingefordert
werden, das Verstehen selbst unterliegt Vorbedingungen. Verständnis
setzt Kenntnis des Materials, des Codes der Musik, voraus. Ein rein emotionales
Verstehen im Sinne von "für schön halten" ist nicht möglich.
Musik zu schreiben, die verstanden wird, wie es kürzlich der Komponist
Hans Jürgen von Bose für sich formuliert hat, muß Widerspruch
erzeugen, wenn der Verdacht entsteht, der Komponist schreibe bewußt,
um zu gefallen und verstanden zu werden, also genau kalkuliert für eine
bestimmte Rezipientenschicht, oder diese verweigere ihren Beitrag zur Kommunikation,
das Beschäftigen mit der Sprache Musik, um vom subjektiven Vorurteil
zu einem objektiven Urteil zu gelangen. Es bleibt die Frage, was es
heißt, Musik zu verstehen. Haben diejenigen, die Neue Musik ablehnen,
weil sie ihnen unverständlich erscheint, Mozarts Jupiter-Sinfonie verstanden,
oder erliegen sie dem Irrtum des bekannten Klanges musikalischer Phoneme? Andererseits
ist es auch kein Qualitätskriterium, Musik zu schreiben, die nicht verstanden
wird. Die Moral aus dem Märchen von "des Kaisers neuen Kleidern"
darf auch hier Anwendung finden. Verständlichkeit jedoch, oder besser
formuliert, die Möglichkeit eines raschen, problemlosen Verstehens, wird
in kunsthandwerklichen, ja künstlerischen Werken nicht möglich sein.
Kunst muß aus ihrem Eigenverständnis mehrdimensional und
somit auch mehrdeutig sein, ihr versteckter Bedeutungsinhalt mit struktureller
Dichte korrespondieren. Hörer wie Interpret, ja selbst der Komponist werden
einfach immer etwas Neues entdecken. Dieses Besondere des Grenzbereiches von
Kunst und Kunsthandwerk wird man bei eindimensional verständlicher funktionaler
Musik vergeblich suchen.
Wohl mehr ein Gütekriterium ist die
Frage nach Originalität und Authentizität einer Komposition.
Das Besondere, Unverwechselbare, Originäre zeichnet Komposition vor Tonsatz
aus, sei dieser auch noch so kunstvoll. Ohne dieses Merkmal wird "in Bewegung
versetzte klingende Form", das, was wir Musik nennen, ihrer Eigenständigkeit
beraubt, sie wird nach Vorbildern klingen, und sie ist eindimensional bedeutungslos.
All diese Grenzen zum Negativen hat Rudolf
Desch in seinem Lebenswerk nicht überschritten. Seine Art von Gebrauchsmusik
oder funktionaler Musik gehorcht all solchen Kriterien. Sein Material richtet
sich nach den Möglichkeiten, was sicherlich eine Begrenzung zu Folge hat,
ohne,daß es darum minderwertig, nicht haltbar, nicht dauerhaft sein könne.
Das Material, das Gebrauchsmusik im guten Sinne zugrunde liegen kann, wird
notwendigerweise konservativ sein. Umso mehr ist an die Komponisten von Gebrauchsmusik
ein hoher Qualitätsmaßstab anzulegen, um oberflächliche und
handwerklich minderwertige von guten Werken zu unterscheiden.
Rudolf Desch hat seinen Platz gefunden
und definiert. Dies ist ein Standpunkt von vielen denkbaren. Der besondere
Reiz von Kunst und dem Umgang mit ihr liegt in der Toleranz, die sich aus der
immer bestehenden anderen Sehensweise, der anderen Lösung
ergibt. Hierfür ist ihm zu danken. Er hat nicht nur die "Szene"
bereichert mit vielen Werken, sondern auch die Menschen, die mit seinen Stücken
umgehen. Es bleibt ihm weitere Produktivität zu wünschen, seinen
Chören und Interpreten Mut und Ausdauer zu weiterer ernsthafter Auseinandersetzung
mit ihm und seinen Werken.
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