Bewahren und aufbrechen

Zur Innensicht musikalischer Bildung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert



Akademischer Festvortrag zur Eröffnung der Wintersemesters 1999/2000
Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater
18. Oktober 1999


" Noch immer geistern traumverloren manche "kleine Rachmaninoffs" mit einem "Nur-Repertoire" für kuchenfressende Pelztiere in unseren Wänden und scheuen jedwede Bewegungsart mit den Klängen unserer Zeit: noch immer glaubt mancher, dass der Bestseller eine ins Unendliche auszudrückende Zitrone ist: selbst Alibi- Modernismus verrät eine eher (selbst-) trügerische Sicht der musikalischen Wirklichkeit."1

Diesen - ebenso provokativen wie wahren - Satz formulierte vor zwei Jahren Professor Theo Brandmüller in seinem Vortrag anlässlich des 50jährigen Jubiläums unserer Hochschule hier an dieser Stelle. Erlauben Sie mir heute, diesen Ausspruch aufzugreifen und weiterzudenken.

Wie zeigt sich die "musikalische Wirklichkeit" heute, in den letzten Monaten des Jahres Eintausendneunhundertneunundneunzig? Wie nehmen wir dieses Ist wahr in bezug auf die das Jetzt bestimmenden Entwicklungen, sind unsere Wahrnehmungen des Ist und Jetzt kongruent mit der musikalischen Wirklichkeit und vor allem aber: kann unser Verständnis des Heute das Morgen übersehen und gestalten?

Das zu Ende gehende Jahrhundert ist geprägt von tiefgreifenden Veränderungen und Einschnitten. Ergebnis ist sicherlich - um es ganz allgemein zu formulieren - eine bis dahin nicht nachzuweisende Vielfalt und Durchdringung menschlicher Kultur. Gerade in unserem Land haben die großen Kriege und besonders die Jahre zwischen 1933 und 1945 Wirkungen hinterlassen, die das Ist und Jetzt maßgeblich begründen. Entwicklungen wurden unterbrochen, zerstreut, zerstört. Dieses Vakuum menschlichen Geistes musste aufgearbeitet und aufgeholt werden, führte zu verspäteten und mühsameren Entwicklungen in der ohnehin instabilen Situation des Umbruchs der Gesellschaft, beschleunigte jedoch gleichzeitig den Prozess der Globalisierung.

Industrialisierung und Globalisierung haben zu fundamentalen Veränderungen im Selbstverständnis der Menschen und ihrer Kultur geführt. Die Expansion der abendländischen Kultur erzeugte durch das Zusammentreffen mit einheimischen Stilen Wechselwirkungen und Mischformen, wie wir sie beispielsweise im Jazz beobachten, gleichzeitig werden jedoch die Kulturen der Menschen, auf die das Abendland mit all seiner Zivilisation und seinem missionaren Dünkel traf, zerstört oder zumindest unterdrückt. Die allgegenwärtige Popularmusik mit ihrer kommerzialisierten gleichschwebenden Durartigkeit lässt dem ungeheuren Reichtum der traditionellen Volks- und Völkerkunst kaum Raum zum Atmen. Allgemeine Verfügbarkeit und globale Maßstablichkeit fördern eine Art musikalischer Weltkultur, eine Musikzivilisation, die gegenwärtig von einem Event zum nächsten hechelt.

Die Möglichkeit der allgemeinen Verbreitung von Musik durch die vielfältigen Medien und die Konzertindustrie in der "bürgerlichen Musikkultur" birgt die große Chance zur Offenheit und Vielfalt wie nie zuvor, gleichzeitig scheinen die von vielen so empfundenen Zwänge des Marktes Einfluss nehmen zu wollen auf die Selbständigkeit und Weitsichtigkeit der Ausbildung, scheinen sie begrenzen zu wollen auf das reduziert anwendungsorientierte Vermitteln von Handwerklichkeit. Die globale Musikzivilisation erleichtert die osmotischen Übergänge und Mischformen, die zu Entwicklung neuer Stile und der Erhöhung der musikalischen Vielfalt führen, trägt aber gleichzeitig das Virus des qualitätsnegierenden Genremixes mit seiner trivialisierend verharmlosenden "Geschmäcklichkeit" in sich. Walter Wiora ortete vor fast vierzig Jahren in der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" die "Massenware Musik" als " nachbürgerlicher Zivilisationskomfort"2 .

Während sich einerseits eine Kultur der Alten Musik, der Klassisch -Romantischen und der Neuen Musik etabliert und verschiedene musikalische Interpretationsmodi3 entfaltet, fügen die auditiven und audiovisuellen Massenkommunikationsmedien der musikalischen Interpretation eine "massenpsychologische Komponente" hinzu und erweitern "Wirkung und Resonanz" der Kompositionen und deren Interpretationen "proportional zur Popularität der Interpreten"4. Der Perfektionismus der unendlich reproduzierbaren, digital gespeicherten Musik von Schallplatte, CD und Internet bestimmt die Qualitätskriterien, die an Ausübende angelegt werden, die Künstler- und Repertoirepolitik der gleichen Industrie lässt Abhängigkeiten von Markt, Mode und Geschmack entstehen, die manipulierbar machen. Die veränderte Aufnahme- und Rezeptionsästhetik im Fadenkreuz solcher Bedingungen prägen Hörerwartungen, leicht verwischen sich die Grenzen zwischen guter und schlechter Musik unter dem Eindruck der Verführung von Gefälligkeit und quotenbestimmter Akzeptanz. Die Handwerklichkeit und Ehrlichkeit guter Komposition zu wahren bedeutet: sich nicht verneigen vor dem Markt und seinen Altären und den Versuch zu wagen, dem Massengeschmack Qualität entgegenzusetzen und allem Zeitgeist trotzend die Nische zu suchen, in der es sich überleben lässt.

Die "Klänge unserer Zeit" widerspiegeln den Aufbruch in ein neues sozio - kulturelles Umfeld in all seiner Vielfalt und Heterogenität . Die Innovation der Neuen Wiener Schule fand ihre Entsprechung in vielfältigen anderen Neuorientierungen, teils unter Negierung, teils unter Wahrung tradierter Materialstrukturen. Wie vielfältig die Wurzeln, mannigfaltig Ansätze und Entwicklungen sind, vollziehen sie doch die osmotische Reaktion hin zur Pluralität. Die Geburtswehen einer neuen musikalischen language dauern an, das Beharren in vertrautem Gemäuer jedoch wirft seine Schatten weit in die Zeit schon vollzogener erster Schritte zu neuen Ausdrucksmitteln hinein. Wie schon häufiger in der Musikgeschichte vollzieht sich auch im 20. Jahrhundert die Übergangsphase des "Noch und Nicht mehr", doch andauernder und tiefgreifender als zuvor. Der Spagat zwischen Progression und Regression, den die Gesellschaft übt, wird natürlich auch in den Künsten reflektiert. Innerhalb der artifiziellen Kunst wird dieser Konflikt ausgetragen, doch die zunehmende Zahl der Rezipienten bleibt zurück. Der immer größer werdende und immer atemloser zu befriedigende Markt verharrt bei alten, inzwischen leer gewordenen Vokabeln. Es beginnt sich eine Kluft aufzutun zwischen "Kunst" - und "Gebrauchsmusik", zwischen "ernster" und "unterhaltender" Musik; das Räderwerk der Musikindustrie dreht sich immer rascher und produziert volkstümliche Musik "für Millionen", verliert die Scheu vor dem anbiedernden Eintopf der "20.15 Uhr - Abendunterhaltung" mit "kammer - singendem" Starmoderator, zeitigt stolz die Früchte einer neuen jungen Zeit, in der sich das Repertoire der " Popularklassik - Programme" einer subjektiv - romantisierenden Interpretationskultur anbiedert. Die Polemik der sich gegenseitig nicht mehr verstehenden Parteien gipfelt in dem Verweis auf Einschaltquoten und Verkaufszahlen. So entstehen im Zuge von Vermassung und Industrialisierung ständig banaler werdende "Jedermanns-Lieder", die populäre Musik erstickt in den Abgasen einer anheimelnd verstandeslosen Retorte der Volkstümlichkeit. Hinter der scheinheilig - treuherzigen Erklärung, den Menschen in dem Grau unserer entmenschlichten Welt Licht und Freude geben zu wollen, verbirgt sich das Unvermögen der Gegenwartskonsumenten und deren Bedienerpersonal, sich mit sich selbst und ihrer Umwelt im Sinne einer vernunftbegabten und entwickelten Spezies auseinanderzusetzen.

Musik für "Hörermassen" verspricht nicht nur Akzeptanz, sondern auch Profit. Die in den Amateurmusikverbänden Organisierten stellen eine nicht zu vernachlässigende Farbe im Mosaik der kulturellen Meinungsvielfalt dar. Ihre Stimmgewalt gründet auf der Mitgliederzahl, deren Größe den Einfluss ihrer Lobby bestimmt. Unzweifelhaft ist ihre Wirkung auf die musikalische Breitenarbeit und den Zusammenhalt sozialer Strukturen bedeutsam, idealiter sind die Bedürfnisse der Amateure auch Zielvorgaben für die Ausbildung professioneller Musiker, die ihrerseits durch Mitarbeit und Einflussnahme helfen, die Kultur der Liebhaber vor Dilettantismus und Laienhaftigkeit zu schützen.

Musik für "Hörermassen" führt aber auch zu "Volksausgaben" aller musikalischen Gattungen, die auf die Konsumierbarkeit für das unterhaltungsbeanspruchte Publikum herunterdekliniert werden und die Werktreue und Darstellung eines schöpferischen Willens dem Starwesen und der Multiplizierbarkeit der Anpassung opfern. Extreme Auswüchse dieser Saat bestaunen wir in der Schmerzunempfindlichkeit unisono - bemühter Tenöre, die die ohnehin potpourriehaften Produkte populärer Bühnenkunst bis zur totalitären Zusammenhanglosigkeit karikieren. Das redliche Bemühen, sowohl Kenner als auch Laien anzusprechen, Musik zu schaffen und zum Erklingen zu bringen, die sich einer "verständlichen" Sprache bedient, durchzieht die Musikgeschichte unseres Jahrhunderts und fand sicherlich akzeptable bis hervorragende Lösungen. Es scheiterte jedoch dann, wenn die Vieldimensionalität musikalischer "Sprachlichkeit" aufgegeben oder das "wahrnehmende Hören" als eine "sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung", die "Hörkategorien außer Kraft" zu setzen vermag, mit "verständnisinnigem Zuhören"5 verwechselt wurde. Die von Karl-Heinz Stuckenschmidt formulierte Forderung nach "elfenbeinernen Türmen" und "kleinen Gemeinschaften von Eingeweihten" unter jeglichem "Verzicht auf Popularität und Demokratie" trifft auf Komponisten, die glauben, Musik komponieren zu können, "die für die große Masse der Hörer verständlich und von Banalem frei wäre"6 . Der Widerspruch zwischen der artifiziellen Musik, die auch avangardistische Tendenzen einzuschließen vermag, und den Erscheinungen der Gegenwartskultur, die unter dem Zeichen plebiszitär ermittelter Qualitätskriterien Abnutzung und Kitsch huldigt, beschleunigt den Entfernungsprozess der divergierenden Pole.

Das durch die Vertreter des "Darmstädter Kreises" formulierte interpretationsästhetische "Primat der klanglichen Strukturerfassung" verband sich mit denen eines "historisch - rekonstruktiven Ansatzes" - der historischen Aufführungspraxis - zu einer Koalition, die sich von einer "subjektiv - romantisierenden" und gleichzeitig "wirkungsästhetisch hochgereizten Interpretationskultur"7 distanzierte. Die vorrangig der "Artistik und Dekoration" verpflichtete Tonträger- und Konzertindustrie mit ihren Galionsfiguren konnte sich zwar der Gegnerschaft der musikalischen Intellektuellen sicher sein und daraus ihre eigene Legitimation ableiten, die Frage nach dem Schönheitsbegriff in der Musik konnte sie ebensowenig beantworten wie diejenigen, die in der Organisation des Materials in der "Nach - Webern - Ära" die Erfüllung zeitgemäßer Ästhetik sahen. Das Versagen der Avantgarde in ihrem Hochmut und ihrer Blindheit des Materialfetischismus gerade in dieser Frage erkennend lässt Helmut Lachenmann eine "Differenzierung zwischen dem legitimen und tief im Menschen verwurzelten Anspruch auf Kunst als Erfahrung von Schönheit und dessen falscher Einlösung und Entfremdung im bürgerlich verdinglichten, gleichwohl gesellschaftlich bewährten Kunst - "Genuss" in einer Gesellschaft der verdrängten Widersprüche"8 fordern. Dort, wo der "naive Künstler heute ein Widerspruch in sich" und die "Verkörperung gesellschaftlicher Lüge und Dummheit" ist, ist die "Frage nach dem "Schönen" unter den Aspekt der Verantwortung zu stellen, die in aller Konsequenz darauf insistiert, zu wissen, was sie tut."9

Hier liegt eine der vorrangigen Aufgaben von Hochschule der Jetzt - Zeit: Das Heranbilden von ästhetischen Persönlichkeiten, die wissen, was sie tun. Dies bedeutet nicht nur, sich dem ästhetischen Apparat zu widersetzen, sich also zu bemühen, "das Richtige zu tun", sich zu einem Menschen zu entwickeln, der "fähig und willens ist, sich und seine Wirklichkeit zu erkennen"10 , sondern auch den künstlerischen Ausdruck reflektiert zu haben und durchschaubar zu machen. Durch die Steigerung des Strukturbegriffs in den fünfziger Jahren entstand eine Interpretationsästhetik, die "wissende" Interpreten voraussetzte und die im 19. Jahrhundert geduldete mitgestaltende Subjektivität - das, was Künstler ohne nachzudenken empfinden - auszumerzen trachtete. Igor Strawinsky sagt in seiner Musikalischen Poetik: "Wer nach dem verpflichtenden Titel eines Interpreten trachtet, muß vor allem eine Bedingung erfüllen: zunächst unfehlbarer Ausführender zu sein.11" Ähnlich klingt es bei Paul Hindemith, der feststellt, dass der "Interpret nur die Aufgabe (hat), eine Komposition ohne störende individualistische Beimischung darzubieten", so dass "der Darbietende gänzlich hinter dem Dargebotenen verschwindet.12" Dies gilt nicht nur für die zeitgenössische, sondern für alle Musik, die - vom Interpreten verstanden und verständlich gemacht - einer "unnötigen und sinnlosen Esoterik"13 widerstrebt. Der von Pierre Boulez dargelegte Kreislauf vom Komponisten zum Interpreten weist dem Interpreten selbst eine untergeordnete Rolle zu:

--- Der Komponist schafft eine Struktur, die er chiffriert.
--- Er chiffriert sie in einen kodierten Raster.
--- Der Interpret dechiffriert diesen kodierten Raster
--- Gemäß dieser Dekodierung gibt er die ihm übermittelte Struktur wieder14.

Dieser informationstheoretische Ansatz führt einerseits zu mechanisierten Musikformen, etwa im Bereich der elektronischen Musik, begünstigt andererseits die Aufwertung der Interpreten in dem Sinne, dass "der mehr oder weniger große Spielraum für interpretatorische Entscheidungen zu einem Bereich der Komposition selber wird"15 . Dieser Kreislauf ist aber auch über die Grenzen der Musik des 20. Jahrhunderts hinweg gültig. Alle Musik ist kodiert niedergelegt, unterschiedliche Stilbereiche bedienen sich auch unterschiedlicher Kodierungen, alle jedoch müssen gelesen und dekodiert werden, bevor die dahinter verborgene Information verstanden wird und verständlich wiedergegeben werden kann. Musikalische Interpretation, die sich nicht auf dem Boden eines angemessen hohen Reflexionsniveaus bewegt, und die sich nicht durch in der Komposition festgeschriebene Information legitimiert, ist spekulativ und subjektiv und gerät in die gefährliche Nähe des ästhetischen Apparates, dem der Kitzel eines oberflächlichen Sentimentes Genüge ist.

Allein die Verknüpfung von Interpretation und Information kann "maniriertem interpretatorischem Spezialistentum widerstehen"16. Dies beziehe ich ausdrücklich neben der zeitgenössischen auch auf die tradierte Musik. Die Überlegungen, die interpretationsästhetisch für die Musik nach 1945 angestellt wurden, sind grundlegend für alle Formen für Musik und bedeutsam für das Selbstverständnis musikalischer Bildung des Heute. Die notwendige Reflexion der Gegenwartssituation einer Hochschule und das ständige Hinterfragen der Redundanz des Bildungsangebotes und Ausbildungsniveaus führt uns glücklicherweise aus dem Elfenbeinturm, der sich elitär den Entwicklungen der Zeit verschließt, heraus. Die eingangs angesprochene Globalisierung des Musikmarktes führt zu befruchtenden Assimilierungen. Die Abkehr vom Fundamentalismus der Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre und die daran geknüpfte Emanzipation der Expressivität in zeitgenössischer Komposition begünstigen Annäherung und Öffnung bisher nicht zu vereinbarender Standpunkte. Es beginnt sich das Verständnis, nicht an den Bedürfnissen des Marktes vorbei ausbilden zu können, durchzusetzen. Notwendig ist hierfür die Zusammenarbeit und die Kommunikation aller kulturtreibenden Institutionen.

Im Ergebnis führt dies zu der unbequemen, doch unumgänglichkeiten Konfrontation mit der Wirklichkeit, die aus der Verantwortung gegenüber den Studierenden kein illusionäres, sondern schonungsloses Bild der Berufsanforderungen und Berufschancen zeichnet und die Politik der Hochschulen danach ausrichtet. Im Ergebnis muss dies auch zu Überlegungen führen, sowohl die Zahl der Ausbildungsstätten als auch die Zahl der Auszubildenden quantitativ zu reduzieren und gleichzeitig deren Qualität zu erhöhen. Dies gelingt nur durch das Miteinander des künstlerischen Einzelunterrichtes im Hauptfach und der Fächer des Hauptfachkomplexes, der Pflege der künstlerischen Ensembles, des Unterrichtes in Musiktheorie und deren Einzeldisziplinen, des künstlerischen Nebenfaches und der musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Unterweisungen. Eine Qualitätssteigerung wird eben nicht durch die Erhöhung der Artistik im künstlerischen Hauptfach allein, sondern in der Kombination künstlerischer Kompetenz und der Erweiterung musikalischer Intelligenz erreicht. Dort, wo Interdisziplinarität und Vernetzung angestrebt und verwirklicht wird, werden die Studierenden befähigt, ihre Rolle als Multiplikatoren wahrzunehmen und ihrer interpretationsästhetischen Aufgabe, "korrumpiertes musikalisches Material" zu erkennen und als solches zu entlarven, gerecht zu werden. Informierte Künstlerpersönlichkeiten, deren Handeln sich nicht auf der unsicheren Grundlage des subjektiven Vorurteils, sondern auf der Basis des dechiffrierten musikalischen Kodes vollzieht, müssen sich nicht der "verkopften Unmusikalität"17 zeihen lassen, sondern überzeugen durch die klanglichen Ergebnisse, mit denen sie sich von den "naiven Künstlern" unterscheiden.

Ein Negativergebnis ist aber auch die stetig abnehmende Sensibilität für die Unmöglichkeit der Vermischung nicht kompatibler Elemente. Hierbei ist die zu begrüßende Befruchtung unterschiedlicher Stile mit dem Ziel, etwas Neues entstehen zu lassen, deutlich zu unterscheiden von der Untugend, diverse Genres zu einem gefälligen Eintopf zusammenzurühren und aus der Akzeptanz des Publikums allein die Bedeutung solcherlei "Kunst - Produkte" abzuleiten. Es ist eben nicht alles gut, was gefällt. Die notwendige Öffnung auch der Hochschulen für die Bedürfnisse der Gegenwartskultur darf nicht dazu führen, dass das Bewußtsein von Gleichheit und Austauschbarkeit unterschiedlicher Stile und Genres erzeugt wird. Eine Operettenarie von Franz Lehár ist nicht das Gleiche wie ein Song von Kurt Weill, und Beide sind nicht vergleichbar mit einer Arie aus der Matthäus - Passion. Nebeneinandergestellt dienen sie der Vielfalt kultureller Darstellungsformen und dienen der jeweiligen Ausdrucksintension. Das Bewahren der vokalen und instrumentalen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts als unsere wesentlichen Wurzeln gehört ebenso zum Kanon der Ausbildungsinhalte wie das Erforschen der Gattungen, Stile und Aufführungspraktiken jenseits dieser " Hoch - Zeit ". Noch immer ist die Musik vor 1700 einer elitären Minderheit von Spezialisten vorbehalten, noch immer enthalten Prüfungsprogramme häufig lediglich den "Alibi - Prokofieff" aus dem Bereich der Musik des 20. Jahrhunderts. Die Beschränkung des Repertoires auf die Klassisch - Romantische Musik mit Tentakeln in die Bachzeit ist kein Reichtum, sondern eine beklagenswerte Selbstverstümmelung. Dass im Bewußtsein vieler Lehrender und damit auch Lernender die Musik unseres zu Ende gehende Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen fast nicht vorkommt und Musik, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden ist und sich in ein Prüfungsprogramm verirrt, als besonderes Ereignis empfunden wird, wirft kein gutes Licht auf das Selbstverständnis von Hochschule als "künstlerisches Zentrum" und "Vorbild für die heutige Musikkultur, als Labor zukünftiger Musik in ihren vielfältigen Ausprägungen"18. Verstehen sich die Hochschulen als "Zentrum der Auseinandersetzung von Kunst, Gesellschaft und Staat und den damit wandelnden Wert- und Leitbildern"19, muss in ihren Mauern ein lebhaftes Bemühen um Gegenwärtiges spürbar sein, darf sie sich durchaus als künstlerisch - ästhetisches Gewissen, das sich von anderen Kulturträgern und Kulturtreibern abhebt und gleichzeitig mit ihnen fruchtbar zusammenarbeitet, verstehen. Das Bestreben nach optimaler Vielfalt gehört zum Spektrum einer Hochschule der Gegenwart, die Vielfalt bedarf aber auch der Reflexion und Einordnung. Dies zu gewährleisten, gehört zur "Verantwortung der Lehrenden für die Studierenden und deren Lebenszeit", aus der sie die "Ausbildung zur Berufsfähigkeit" vorantreiben und ein "freie(s), also unabhängig von außerkünstlerischer Bestimmung angelegte(s) Kunst - Interesse"20 verfolgen.

Das musikalische Berufsfeld ist rasanten Veränderungen unterworfen. Kein Tätigkeitsbereich bleibt so, wie er ist, gleichzeitig eröffnen sich jedoch neue Aufgaben. Vorrangig werden zukünftig Flexibilität, die Fähigkeit zu vernetztem und interdisziplinärem Denken und Handeln und die Bereitschaft zur stetigen Umstellung und zum ständigen Lernen von Bedeutung sein. So wird das Zusammenbrechen alter Strukturen zum Beginn neuer. Die angesichts der Fülle des Bildungsangebotes notwendige Profilbildung der Hochschulen entläßt uns nicht aus der Verantwortung, die Schwerpunkte so zu gestalten, dass die Befähigung in ausreichendem Maße umfassend und vielfältig ist, um die Wandlungen der Zukunft zu ertragen und aktiv mitzugestalten.

Ziel des Studiums muss sein.
--- zu lernen, wie man lernt;
--- den Horizont zu weiten für Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges;
--- die Vielfalt der Möglichkeiten zu eröffnen und Neugier zu erzeugen;
--- ein Qualitätsbewußtsein zu schaffen, das sich nicht von Geschmack erschüttern läßt.

Die Hochschule, die sich von einer Berufsfachschule oder der vielzitierten "Bewahranstalt" abgrenzt, ist Ort des Experimentes und des Reflektierens, des Forschens und innovativen Denkens. Sie ist Ort des Bewahrens und Aufbrechens, der freien Kunstentwicklung und des ästhetischen Gewissens. Sie ist Ort von Ausbildung und Befähigung und gleichzeitig Ort von Visionen. Sie ist letztlich Ort der Deutung künstlerischer Vergangenheit und deren Bedeutung für die Gegenwart, ein Ort der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Sie soll ein Ort sein, in dem die Studierenden ihr Studium begreifen als Zeit des Kompetenzerwerbes und der umfassenden Horizonterweiterung und nicht als frühvollendete Trainingszeit für Instrumentalartistik. Sie soll ein Ort sein, an dem die Lernenden mit den Lehrenden studieren und die Lehrenden über ihr Fach hinausdenkend ihrer Verantwortung gerecht werden und so alle mithelfen an der Gestaltung musikalischen Bildung, die nicht als Zulieferdienst für den "ästhetischen Apparat" verkommt, sondern reflektierend und begabend bewahrt und täglich neu aufbricht.


Quellen:

1 Th. Brandmüller, Engagement für das Gegenwärtige, in: Arrièregarde-Avantgarde, Texte zur Musik; 1980-1998. S.108, Saarbrücken 1998

2 Walter Wiora, Die vier Weltalter der Musik, Stuttgart 1961

3 Hermann Danuser, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd.11, S.13 ff.

4 Martin Elste, in: ebd.,S.414

5 Helmut Lachenmann, Hören ist wehrlos - ohne Hören, in: Musik als existentielle Erfahrung, Frankfurt 1996, S.116

6 Walter Wiora, Die vier Weltalter der Musik, Stuttgart 1961

7 Siegfried Mauser, Tendenzen nach 1945, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd.11, S.415 ff.

8 Helmut Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute, in: Musik als existentielle Erfahrung, Frankfurt 1996, S.104 ff.

9 ebd, S.109

10 ebd. S.106

11 I. Strawinsky, Musikalische Poetik, S.81

12 P. Hindemith, Komponist in seiner Welt, S.179

13 S. Mauser, Tendenzen nach 1945, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd.11, S.418

14 P. Boulez, Zeit, Notation und Code, S.66

15 K. Stockhausen, Musik und Graphik, S.18

16 S. Mauser, Tendenzen nach 1945, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd11, S.418

17 ebd, S.418

18 Musikhochschule an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, Thesenpapier der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland v. 18. Mai 1999, S.5

19 ebd.

20 ebd.